In der Debatte über die Zukunft der Sozialversicherung sehen wir eine „maximale politische Eskalation“, läutete PKV-Verbandsdirektor Florian Reuther die Veranstaltung ein. Damit bezog er sich nicht nur auf die aufgeheizte Rentendebatte in der großen Koalition, sondern auch auf eine mögliche Anrufung des Vermittlungsausschusses wegen eines „relativ kleinen Sparpaketes“ in der GKV. Die Brisanz der zu diskutierenden Themenfelder war also klar und wurde von sämtlichen Experten bestätigt.
Auf dem Forum der Wissenschaft lieferten renommiere Ökonomen nicht nur eine Bestandsaufnahme von Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Sie zeigten auch konkrete Lösungsmöglichkeiten auf. Deutlich wurde vor allem: Die Zeit für grundlegende Reformen wird knapp.
Bald höchste Abgabenlast weltweit
Wie eng die Handlungsspielräume sind, skizzierte Prof. Dr. Thiess Büttner, Vorsitzender des Unabhängigen Beirats des Stabilitätsrats. Die Abgabenquote in Deutschland betrage schon heute 42,3 Prozent. „Wenn die Entwicklung anhält, werden wir bald die höchste Abgabenbelastung auf den Faktor Arbeit in der Welt haben,“ betonte er. Diese immensen Lohnzusatzkosten hätten gravierende Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.
Gleichzeitig sei eine Stabilisierung der Beitragssätze über weitere Bundeszuschüsse keine Alternative. Allein das Einfrieren auf dem heutigen Niveau würde rund 150 Milliarden Euro kosten: „Das sprengt den Bundeshaushalt.“ Und auch eine Stützung über Darlehen, wie jüngst für die Pflegeversicherung beschlossen, sei kein gangbarer Weg. Es sei unwahrscheinlich, dass die Kredite zurückgezahlt werden könnten. Und so werde aus den Darlehen in der Zukunft letztlich dennoch ein Zuschuss.
Die einzige Lösungsmöglichkeit sieht Büttner darin, Elemente der Kapitaldeckung einzuführen, „um die Kostenlawinen in Zukunft aufzuhalten.“ Gleichzeitig komme man kurzfristig nicht um Kostenreduzierungen herum.
Rente: Längere Lebensarbeitszeit plus Eigenvorsorge
Mit Blick auf die derzeit diskutierte Rentenreform warnte der Wirtschaftsweise Prof. Dr. Martin Werding, sie würde die Ausgaben zu Lasten der Jüngeren weiter steigen lassen. Das Rentenpakt passe in keiner Weise zur Situation des Bundeshaushalts: „Es wäre besser, die Pläne vom Tisch zu nehmen.“ Um die Rentenversicherung zu stabilisieren, plädiert Werding für eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit plus einer zusätzlichen kapitalgedeckten Vorsorge. „Man tut so, als ginge es nur mit dem aktuellen Umlageverfahren. Es gibt Alternativen. Auf die Mischung kommt es an.“
GKV: Einnahmeorientierte Ausgabenpolitik
Im derzeitigen wirtschaftlichen Umfeld sei ebenfalls „kein fortgesetzter Anstieg der Beitragssätze in der Gesetzlichen Krankenversicherung akzeptabel“, mahnt Dr. Martin Albrecht, Geschäftsführer des IGES-Instituts. „Steigen die Finanzierungslasten weiter, droht die Akzeptanz für das System zu schwinden." Nötig seien strukturelle Reformen für eine bedarfsgerechte Steuerung der Patientenversorgung und zur Dämpfung des Ausgabenwachstums. Dazu gehören die Reform der Notfallversorgung, eine Ambulantisierung und der Ausbau digitaler Zugangsmöglichkeiten“, empfiehlt er. Skeptisch beurteilte Albrecht das diskutierte Primärarztmodell. Hier gebe es wenig Evidenz über relevante Einsparpotenziale.
Pflege: Zuschüsse aus Umlage herauslösen
Die größte Dynamik bei den Beitragsätzen sahen Prof. Dr. Christine Arentz und Prof. Dr. Jürgen Wasem von Expertenrat „Pflegefinanzen“ in der Pflegeversicherung. Das liege neben dem demografischen Wandel auch an teuren Pflegereformen in der jüngsten Vergangenheit. Als erste Maßnahme sollte sich die Politik daher darauf verständigen, keine Leistungsausweitungen im Umlageverfahren mehr umzusetzen. Zudem sollte man auch über die Definition des aktuellen Pflegebedürftigkeitsbegriff, wie er 2017 eingeführt wurde, diskutieren.
Darüber hinaus legten sie den Fokus auf die erst 2022 eingeführten Zuschüsse in der stationären Versorgung. Diese verursachten hohe Kosten und seien zudem sozialpolitisch fragwürdig, weil sie auch Personen begünstigten, die für ihre Pflege selbst aufkommen könnten. Ihr Vorschlag lautete daher, dieses Instrument aus der Umlagefinanzierung herauszulösen und über eine kapitalgedeckte Absicherung aufzufangen.
Als Instrument biete sich dafür die vom Expertenrat entwickelte Pflege-Plus-Versicherung an, betonte Wasem. Der Expertenrat hatte das Konzept für eine obligatorische, kapitalgedeckte Zusatzversicherung bereits vor zwei Jahren entwickelt, um die steigenden Eigenanteile in der stationären Pflege zu begrenzen. Diese Versicherung gewährleistet, „dass das angesparte Kapital – anders als in einem staatlichen, umlagefinanzierten Pflegevorsorgefonds – eigentumsrechtlich vor politischer Zweckentfremdung geschützt wird“, erläuterte Wasem. Man könne dieses Modell ohne Schwierigkeiten auch auf andere Bereiche wie eben die Zuschüsse ausweiten.
Bundesregierung will die Herausforderungen angehen
Simone Borchardt, gesundheitspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gab ein klares Signal, dass die Politik die Zeichen der Zeit erkannt habe: „Wir haben kein Erkenntnisproblem. Die Bundesregierung wird sich den existentiellen Herausforderungen in den Systemen der sozialen Sicherheit stellen“, versprach sie.
Wie das gelingen kann, fasste Dr. Dorothea Siems, Chefökonomin von „Welt“ und „Welt am Sonntag“, zusammen: „Die Politik braucht mehr Mut und Geschick, um notwendige Reformen durchzusetzen. Dazu gehört auch, den Menschen etwas abzuverlangen – es kommt darauf an, dass alle Gruppen einen Beitrag leisten. Jetzt ist noch Zeit zu handeln.“