Meldung 09. Juli 2025

Positionspapier mit Empfehlungen zur gesundheitspolitischen Priorisierung für diese Legislaturperiode

In dieser Legislaturperiode wird die demografische Entwicklung die Beitragssätze zur Sozialversicherung spürbar unter zusätzlichen Druck setzen: denn zwischen 2025 und 2035 erreicht die „Babyboomer-Generation“ das Rentenalter. In den vergangenen 20 Jahren konnten die Pflege- und Gesundheitsausgaben unserer alternden Gesellschaft noch ausgeglichen werden, weil die starken Geburtsjahrgänge auf dem Höhepunkt ihrer beruflichen Entwicklung angekommen waren – und überproportionale einkommensabhängige Beiträge zur GKV und SPV gezahlt haben. Mit dem Übergang dieser Generation ins Rentenalter wird sich die Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen in beiden Dimensionen vergrößern. Zugleich wird der medizinische und pflegerische Behandlungsbedarf zunehmen - bei gleichzeitig knapper werdenden personellen Ressourcen für die Versorgung selbst. Angesichts von Beitragssätzen auf Rekordhöhe und struktureller Haushaltskrise sind die Optionen auf der Einnahmeseite ausgereizt.  

Positionspapier Prävention

Es braucht eine Präventionsstrategie, die den Namen verdient

Angesichts dieser strukturellen Herausforderungen muss die immer wieder beschworene, aber faktisch vernachlässigte Stellschraube der Gesundheitsförderung und Prävention endlich zum Leitbild der Gesundheits- und Pflegepolitik werden: als zentraler Hebel zur Entlastung des Versorgungssystems. Deutschland braucht einen präventionspolitischen Aufbruch, um den demografisch bedingten Anstieg zumindest zu bremsen und damit auch einen Beitrag zur Finanzierbarkeit des Versorgungssystems zu leisten. Denn derzeit drohen wir den Wettlauf mit der Zeit in einer alternden Gesellschaft zu verlieren: nicht nur die Zahl der Pflegefälle nimmt dynamisch zu, auch die Pflegezeiten bei den Hochbetagten verlängern sich.  Zugleich beobachten wir bereits in den mittleren Lebensjahren einen Anstieg der lebensstilbedingten chronischen Krankheiten. Und schon bei Kindern und Jugendlichen sind Bewegungsarmut, Übergewicht und Suchtgefährdung als Risikofaktoren für spätere Erkrankungen im internationalen Vergleich überproportional zu verzeichnen. Von jung bis alt gründen die Ursachen von Krankheit häufig in gesundheitsschädlichen Lebensstilen. Bei ungünstigem Gesundheitsverhalten kann auch ein sehr teures und leistungsstarkes Gesundheitssystem, wie wir es in Deutschland haben, nur bedingt etwas am Gesundheitszustand und an der Lebenserwartung verbessern.  

Auch wenn der Begriff vor zehn Jahren mit guten Absichten ins SGB V geschrieben wurde: eine flächendeckend wirksame „Präventionsstrategie“, die diesen Herausforderungen Rechnung tragen würde und die messbar positive Public-Health-Effekte aufweist, ist derzeit nicht erkennbar. Das vor 10 Jahren geschaffene Präventionsgesetz gehört daher dringend auf den Prüfstand.

1. Bilanzierung

Die Bundesregierung sollte in der neuen Legislaturperiode in einem ersten Schritt die bisherigen Erfahrungen mit dem Präventionsgesetz schonungslos und unter Einbeziehung aller Beteiligten bilanzieren. 

Dabei sollte sie sich von Fragen wie diesen leiten lassen:  

  • Welche Instrumente und Institutionen haben sich bei Prävention und Gesundheitsförderung auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene bewährt und eignen sich eventuell für einen flächendeckenden Ausbau?
  • Welche Strukturen sind hinderlich? Worauf lässt sich im Interesse einer Bündelung der knappen finanziellen und personellen Ressourcen verzichten?
  • Welcher Anpassungen der bestehenden Ansätze bedarf es, um zu effizienteren und skalierbaren Lösungen zu kommen?  
  • Welches sind die Ziele einer nationalen Präventionsstrategie und wie werden diese gemessen? 

2. Gesetzlichen Rahmen schaffen für Transparenz, Kooperation und Qualität

Der Bundesgesetzgeber kann in der Prävention nicht „durchregieren“, aber er kann Rahmenbedingungen setzen, von denen die landes- und kommunalpolitischen Akteure profitieren. In einem ersten Schritt sollten daher die Bedingungen für eine Verbesserung der Kooperation aller Präventionsakteure auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene geschaffen werden. Dazu bedarf es vor allem der Transparenz über vorhandene qualitätsgesicherte Präventionsangebote, insbesondere der Gesundheitsförderung in Lebenswelten. Das würde die derzeitige ineffiziente und fragmentarische Parallelentwicklung von häufig nicht qualitätsgesicherten und nur kurzfristig finanzierten Programmen vermeiden

Ein Instrument für mehr Transparenz- und Qualitätssicherung könnte eine zentrale digitale Informations- und Interaktions-Infrastruktur auf Bundesebene sein, die zeitnah und systematisch in der Praxis bewährte und evaluierte Programme anbietet, so dass diese von allen Präventionsverantwortlichen genutzt werden können – und zwar mit allen notwendigen digitalen Beratungs- und Schulungsinstrumenten unter Einhaltung der Datenschutzkonformität und Barrierearmut. Soweit der Bund auf Bundesebene die Finanzierung von Programmen normieren kann, muss er die Anerkennung der Mittelverwendung im Sinne des Präventionsgesetzes an Kriterien der Transparenz, Qualitätssicherung und Evaluation sowie der Kooperationsoffenheit, Skalierbarkeit und Verstetigung knüpfen.  

3. Eine ganzheitliche Präventionsstrategie verfolgen

Bei der Bilanzierung und der Konzeption erster Maßnahmen muss der Bund zugleich eine ganzheitliche Präventionsstrategie verfolgen, die die verschiedenen auf allen Ebenen der Gesellschaft vorhandenen Präventionsansätze funktional integriert:  

  • Health in All Policies: Die Verantwortung aller Ressorts und aller Gebietskörperschaften für gesunde Lebensbedingungen erfordert die Kooperation aller verantwortlichen Akteure in Bund, Ländern, Kommunen, Sozialversicherung und Zivilgesellschaft. Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit sind fest verankerte, transparente und gut strukturierte Zuständigkeiten und Prozesse zwischen den vielen Beteiligten erforderlich. Die neue Bundesregierung sollte mit gutem Beispiel vorangehen und für jedes Ressort prüfen, inwiefern es einen Beitrag für die Öffentliche Gesundheit leisten kann.
  • Verhältnisprävention: Es gilt, die strukturellen Voraussetzungen von Gesundheitschancen in den Lebenswelten bzw. sozial benachteiligten Regionen zu schaffen, um auch Menschen in prekären Lebenslagen zu einem eigenverantwortlichen und kompetenten Gesundheitsverhalten zu befähigen.
  • Verhaltensprävention: Hier können die Kostenträger deutlich mehr bewirken, auch indem sie Versicherte belohnen, die bereit sind, mehr Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen. Allerdings müssen dafür die Kompetenzen der Krankenversicherung neu definiert werden: für die PKV fehlt im Versicherungsvertragsgesetz bislang eine klare rechtliche Basis für individuelle Primärprävention, obwohl die PKV seit Jahren erfolgreich im Bereich der Tertiärprävention zeigt, dass der individuelle Nutzen auch für das gesamte Versichertenkollektiv von Nutzen sein kann. Leistungen zur Verhinderung und Verminderung von Krankheitsrisiken sowie zur Förderung des selbstbestimmten gesundheitsorientierten Handelns sollten daher im Versicherungsvertragsgesetz (§ 192 VVG) ergänzt werden und sowohl für Neu- als auch Bestandsversicherte gelten. Gleichzeitig sollte die PKV die Befugnis erhalten, Versichertendaten auszuwerten, um zielgruppenadäquate bonifizierte Präventionsprogramme anbieten zu können.
  • Förderung der Gesundheitskompetenz: Gesundheitskompetenz ist die Fähigkeit, gesundheitsrelevante Informationen zu suchen, zu finden, auf ihre Qualität hin zu beurteilen und für die eigene Situation anwenden zu können. Sie ist damit ein Schlüssel für Gesundheit und eine grundlegende Voraussetzung für einen gesunden Lebensstil und ein hohes Maß an Lebensqualität. Obwohl heute so viele Informationen wie nie verfügbar sind, weisen zwei Drittel der Bevölkerung eine geringe Gesundheitskompetenz auf . Viele Menschen sind auch durch die Vielfalt und Widersprüchlichkeit von verfügbaren Gesundheitsinformationen überfordert. Der Bund könnte einen Beitrag dafür leisten, dass bestehende evidenzbasierte und zugleich laienverständliche Gesundheitsportale (wie Gesundheitsinformation oder Stiftung Gesundheitswissen) leichter auffindbar sind und die vorhandenen qualitätsgesicherten Informationen verknüpft werden. Das Nationale Gesundheitsportal könnte dazu als Lotsenportal mit Suchmaschine umgestaltet werden. Zudem sollte die im Jahr 2024 vereinbarte Roadmap der Allianz für Gesundheitskompetenz konsequent als Basis genutzt werden, um die Gesundheitskompetenz in den Organisationen und Lebenswelten auszubauen und die professionelle Gesundheitskompetenz aller im Gesundheitswesen Tätigen zu fördern.
  • Pflegeprävention: Von der individuellen Verhaltensprävention bis zur strukturbildenden Verhältnisprävention wurden verschiedene Ansätze erprobt, um die Gesundheit von Pflegebedürftigen, pflegenden Angehörigen und professionellen Pflegekräften im Sinne gesundheitsförderlicher Lebenswelten zu stärken. Diese kommen bis heute in der Pflegepraxis kaum an. Edukative, präventive und gesundheitsförderliche Maßnahmen müssen niedrigschwellig und zielgruppenorientiert gestaltet werden. Bei der Umsetzung des seit 2017 geltenden Pflegebedürftigkeitsbegriffs muss noch mehr als bisher auf Prävention gesetzt werden, um die Selbstständigkeit und die Fähigkeiten pflegebedürftiger Menschen im praktischen Alltag zu fördern und ein Fortschreiten der Pflegbedürftigkeit zu verzögern. Die Angebote müssen attraktiver und bekannter werden, um das Bewusstsein und die Nachfrage bei den Zielgruppen zu wecken. Daher sollten die Themen in der Begutachtung, Beratung und Qualitätsprüfung systematisch integriert werden.
  • Prävention in der medizinischen Versorgung: Präventive Ansätze können sich nur dann durchsetzen, wenn sie auch in der medizinischen Versorgung zum Tragen kommen. Diese ist indes primär kurativ und morbiditätsorientiert. Die Gelegenheit zu frühzeitigen und krankheitsvermeidenden Interventionen wird zu wenig genutzt. Daher sollte die Präventionskompetenz von ärztlichem und pflegerischen Personal in der Versorgung ausgebaut werden. Vorteil: Diese Berufsgruppen haben seit jeher den Zugang zu Risikogruppen, die über kommunale und verhältnispräventive Ansätze bislang eher nicht erreicht werden.

Eine konsequente Präventionspolitik ist eine Investition in die Zukunft. Sie schafft nicht nur individuelle Lebensqualität, sondern trägt dazu bei, die finanziellen und personellen Ressourcen im Gesundheitssystem zu schonen. Die aufgezeigten Elemente einer ganzheitlichen Präventionsstrategie sind bisher in Deutschland nur marginal oder gar nicht vorhanden. Ein neues Präventionsgesetz muss hierauf eine Antwort geben und darf sich nicht in institutionellen Fragen verlieren, wie das in der vergangenen Legislaturperiode mit der Gründung des BIÖG der Fall war, oder auf Früherkennung und Medikamentierung reduzieren. Organisatorisch kann das Bundesministerium für Gesundheit dazu seine Präventionskompetenzen, die in unterschiedlichen Abteilungen abgebildet sind, zukünftig besser bündeln.