Interview 17. Juni 2025

Trotz sehr gutem Zugang zur Gesundheitsversorgung liegt die Lebenserwartung in Deutschland unter dem EU-Durchschnitt. Die aktuelle WIP-Studie zeigt: Medizinische Spitzenleistung allein reicht nicht. Prävention und Verhaltensänderungen werden immer wichtiger.

Univ.-Prof. (em.) Dr. Ingo Froböse (Foto: Sebastian Bahr)

Die Diskrepanz zwischen hervorragender medizinischer Versorgung und vergleichsweise niedriger Lebenserwartung wirft die Frage auf, wo die Ursachen liegen. Ingo Froböse, Experte für Prävention und Gesundheitsförderung, erklärt, warum das deutsche Gesundheitssystem vor allem eine stärkere Ausrichtung auf Prävention braucht und wie finanzielle Anreize sowie Eigenverantwortung dabei eine Schlüsselrolle spielen.

Herr Froböse, wie haben Sie die Ergebnisse der neuen WIP-Studie zum deutschen Gesundheitssystem im europäischen Vergleich aufgenommen?

Grundsätzlich hat mich das nicht überrascht, das muss ich wirklich sagen. Ich habe erwartet, dass es so schlecht ist – denn wir kennen die Daten und Zahlen seit vielen Jahren: Unser System wird immer teurer, aber auch immer ineffizienter. Das wissen wir inzwischen. Und nicht ohne Grund sind viele unzufrieden – angefangen bei den Patientinnen und Patienten, die genauso unzufrieden sind wie die gesamte Ärzteschaft.

Letztendlich ist das ganze System sanierungsbedürftig – und zugleich so festgefahren, dass es unbeweglich geworden ist. Das entspricht nicht mehr den modernen Herausforderungen. Denn wir haben uns in den letzten Jahren, was Gesundheitsrisiken und chronische Erkrankungen betrifft, deutlich verändert. Neue Herausforderungen treffen auf alte Strukturen – und das kann einfach nicht funktionieren.

Was machen andere Länder denn anders als wir in Deutschland?

Zunächst einmal ist der Zugang zu unserem Medizinsystem herausragend. Aber die Frage ist: Ist das der richtige Weg? Denn daraus ergibt sich eine bestimmte Philosophie – nämlich die Vorstellung: ‚Ich muss mich ins System begeben, dort werde ich behandelt. Dabei erwerbe ich keine eigene Handlungskompetenz, sondern gebe letztlich meine gesamte Verantwortung ab’. So ist unser System aufgebaut.

Und das ist in anderen Systemen ganz anders. Dort ist alles deutlich verknappter, deutlich reduzierter. Diese Verknappung führt dazu, dass ich selbst merke, etwas tun zu müssen – und nicht die gesamte Verantwortung abgebe. Das ist einer der wesentlichsten Unterschiede. Bei uns hat sich eine Konsumorientierung im Gesundheitswesen entwickelt: Ich zahle meine Beiträge, also steht mir auch etwas zu. Und wenn wir sehen, dass die Deutschen im Schnitt zehnmal pro Jahr zum Arzt gehen, dann wissen wir, dass da etwas schiefläuft.

Das haben andere Länder eben nicht. Sie haben deutlich längere Zugangszeiten, deutlich weniger individuelle Konsultationsmöglichkeiten und eine deutlich geringere fachärztliche Differenzierung. Vieles bleibt dort auf einer allgemeineren, globaleren Ebene. Eine so tiefe disziplinäre Ausdifferenzierung wie bei uns gibt es anderswo nicht. Das wiederum erzeugt bei uns einen Bedarf – wir generieren ihn also selbst, indem wir das System so gestalten, dass es diesen Bedarf überhaupt abdeckt. Andere Länder machen das gar nicht.

Über die gesamte Lebensspanne hinweg sind wir Deutschen die kränkste Nation Europas. Und damit verlieren wir früh unsere Wirtschaftskraft – und unsere Lebensqualität.

Univ.-Prof. (em.) Dr. Ingo Froböse , Experte für Prävention und Gesundheitsförderung

Trotz unseres guten Gesundheitssystems liegt die Lebenserwartung unter dem EU-Durchschnitt. Welche politischen Maßnahmen sind aus Ihrer Sicht nötig, um Lebensqualität und Lebenserwartung zu verbessern?

Also, damit wir von einer kranken Gesellschaft wieder zu einer gesunden kommen – denn ja, wir sind eine kranke Gesellschaft geworden. Ein paar Beispiele: Im Schnitt nimmt jeder Deutsche ein Blutdruckmedikament – das sind 77 Milliarden Einzeldosen pro Jahr. Wir machen 11,6 Millionen MRTs gegen Rückenschmerzen. Jeden Tag sterben 300 Menschen an den Folgen von Typ-2-Diabetes. 30 Prozent unserer Kinder und Jugendlichen sind übergewichtig. Meine größte Sorge: Schlaganfälle bei Kindern und Jugendlichen. Die Pflegebedürftigkeit setzt in Deutschland deutlich früher ein als in anderen Ländern.

Über die gesamte Lebensspanne hinweg sind wir Deutschen die kränkste Nation Europas. Und damit verlieren wir früh unsere Wirtschaftskraft – und unsere Lebensqualität. Das nimmt weiter zu.

Deshalb brauchen wir eine Gesundheitspolitik, die Krankheit vermeidet – in allen Bereichen, für die Ministerien und Regierung Verantwortung tragen. Wir müssen Lebenswelten schaffen, in denen gesundes Verhalten der einfachste Weg ist. Ernährungssysteme, in denen gesunde Ernährung die beste, leckerste und einfachste Wahl ist. Und eine Kultur, in der Alltagsbewegung ganz selbstverständlich dazugehört.

Es geht um eigene körperliche Aktivität, nicht um E-Mobilität. Wir müssen es schaffen, dass Gesundheit in der Bildung und Kompetenzvermittlung ganz oben auf der Agenda steht und nicht zu einem Nebenfach degeneriert, das dann häufig gar nicht mehr stattfindet, weil die Stunden immer wieder ausfallen.

Außerdem müssen wir bestimmte Systeme neu denken, zum Beispiel im Hinblick auf unsere Grundsätze: Prävention vor Rehabilitation, Rehabilitation vor Pflege. Das bedeutet, wir müssen die Systeme, die wir ursprünglich einmal geschaffen haben, auch weiterdenken und weiterentwickeln – und das tun wir nicht. Wir werden unseren Verpflichtungen, die der Gesetzgeber einmal formuliert hat, nicht gerecht.

Wie bewerten Sie die Rolle der Gesetzlichen Krankenversicherung bei der Förderung eines gesunden Lebensstils?

Man bürdet der Krankenkasse schon sehr viel auf, das muss man klar sagen. Sie haben wenig Gestaltungsfreiheit, und das ist das erste Problem. Vor allem im Bereich der Prävention dürfen sie kaum handeln. Und wenn sie handeln dürfen, ist das stark gedeckelt, limitiert und beschränkt. Wir müssten den Krankenkassen viel mehr Gestaltungsspielraum geben, insbesondere um gesundes Verhalten zu belohnen und es stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Natürlich dürfen wir das Solidarprinzip dabei nicht verlieren.

Menschen, die neue Präventionswege gehen, sollten sehen, dass sich gesundes Verhalten lohnt. Im Moment lohnt sich krankes Verhalten, weil ich Ressourcen aus der Krankenversicherung erhalte. Bleibe ich jedoch gesund, habe ich eher Nachteile als Vorteile. Genau das müssen wir ändern.

Die PKV ist ein Treiber für Prävention, weil finanzielle Anreize – etwa Beitragsrückerstattungen bei Nichtinanspruchnahme von Leistungen – gesundheitsbewusstes Verhalten fördern können und dabei deutlich mehr Transparenz bieten.

Univ.-Prof. (em.) Dr. Ingo Froböse , Experte für Prävention und Gesundheitsförderung

Wie unterscheidet sich die Rolle der Privaten Krankenversicherung dabei im Vergleich zur Gesetzlichen Krankenversicherung?

Ein gutes Beispiel für den Unterschied: In der Privaten Krankenversicherung (PKV) kann ich durch mein Verhalten – etwa selteneren Arztbesuch – direkt Einfluss auf meine Beitragshöhe nehmen. Solche Anreizmechanismen funktionieren völlig anders als in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Für mich liegt darin ein interessantes Potenzial: Die PKV ist ein Treiber für Prävention, weil finanzielle Anreize – etwa Beitragsrückerstattungen bei Nichtinanspruchnahme von Leistungen – gesundheitsbewusstes Verhalten fördern können und dabei deutlich mehr Transparenz bieten.

Ich begrüße, dass die Nationale Präventionskonferenz in diesem Bereich erste Schritte gegangen ist. Aber klar ist auch: Wir brauchen dringend ein neues Präventionsgesetz, denn das bestehende passt nicht zu den realen Anforderungen und Möglichkeiten – weder für GKV noch für PKV.

Persönlich bin ich ein überzeugter Befürworter eines Bonusmodells, das für alle Versicherten gilt – allerdings mit einem klaren Nachweis. Es reicht aus meiner Sicht nicht, einfach keine Rechnungen einzureichen – auch wenn das in der PKV bereits ein sinnvoller erster Schritt ist. Vielmehr sollte dokumentiert werden, dass bestimmte Gesundheitswerte stabil geblieben sind: Körpergewicht, Sauerstoffaufnahme, Blutdruck, Cholesterinwerte – all das ließe sich mit standardisierten diagnostischen Verfahren erfassen. Ein einfaches, aber aussagekräftiges Instrument wäre hier sinnvoll.

Ich erinnere mich an eine Idee aus den 1990er Jahren: Damals entwickelte die Berlin-Kölnische Versicherung ein innovatives Modell, das genau auf diese Präventionslogik setzte – das sogenannte Eurofitness-Profil. Es ging dabei nicht um rein medizinische Untersuchungen, sondern um wiederkehrende Fitness-Tests, die den Gesundheitszustand ganzheitlich abbilden sollten. Wer regelmäßig nachwies, dass er sich in guter Verfassung befand, erhielt – ähnlich wie bei der Kfz-Versicherung – eine Art Schadensfreiheitsrabatt. Das Prinzip war einfach: Gesundheit wird belohnt. Und genau diesen Gedanken brauchen wir wieder – für alle Versicherten.

Wie Versicherte und Verbraucher selbst aktiv werden können, zeigt der zweite Teil des Interviews auf privat-patienten.de.

Über Ingo Froböse

Univ.-Prof. (em.) Dr. Ingo Froböse ist emeritierter Professor für Prävention und Rehabilitation im Sport an der Deutschen Sporthochschule Köln. Er leitete dort über viele Jahre das Institut für Bewegungstherapie sowie das Zentrum für Gesundheit durch Sport und Bewegung. Heute engagiert er sich als Gesundheitsexperte in Wissenschaft, Politikberatung und Öffentlichkeit für einen aktiven Lebensstil und eine stärkere Verankerung von Prävention im Gesundheitssystem.