Trotz unseres guten Gesundheitssystems liegt die Lebenserwartung unter dem EU-Durchschnitt. Welche politischen Maßnahmen sind aus Ihrer Sicht nötig, um Lebensqualität und Lebenserwartung zu verbessern?
Also, damit wir von einer kranken Gesellschaft wieder zu einer gesunden kommen – denn ja, wir sind eine kranke Gesellschaft geworden. Ein paar Beispiele: Im Schnitt nimmt jeder Deutsche ein Blutdruckmedikament – das sind 77 Milliarden Einzeldosen pro Jahr. Wir machen 11,6 Millionen MRTs gegen Rückenschmerzen. Jeden Tag sterben 300 Menschen an den Folgen von Typ-2-Diabetes. 30 Prozent unserer Kinder und Jugendlichen sind übergewichtig. Meine größte Sorge: Schlaganfälle bei Kindern und Jugendlichen. Die Pflegebedürftigkeit setzt in Deutschland deutlich früher ein als in anderen Ländern.
Über die gesamte Lebensspanne hinweg sind wir Deutschen die kränkste Nation Europas. Und damit verlieren wir früh unsere Wirtschaftskraft – und unsere Lebensqualität. Das nimmt weiter zu.
Deshalb brauchen wir eine Gesundheitspolitik, die Krankheit vermeidet – in allen Bereichen, für die Ministerien und Regierung Verantwortung tragen. Wir müssen Lebenswelten schaffen, in denen gesundes Verhalten der einfachste Weg ist. Ernährungssysteme, in denen gesunde Ernährung die beste, leckerste und einfachste Wahl ist. Und eine Kultur, in der Alltagsbewegung ganz selbstverständlich dazugehört.
Es geht um eigene körperliche Aktivität, nicht um E-Mobilität. Wir müssen es schaffen, dass Gesundheit in der Bildung und Kompetenzvermittlung ganz oben auf der Agenda steht und nicht zu einem Nebenfach degeneriert, das dann häufig gar nicht mehr stattfindet, weil die Stunden immer wieder ausfallen.
Außerdem müssen wir bestimmte Systeme neu denken, zum Beispiel im Hinblick auf unsere Grundsätze: Prävention vor Rehabilitation, Rehabilitation vor Pflege. Das bedeutet, wir müssen die Systeme, die wir ursprünglich einmal geschaffen haben, auch weiterdenken und weiterentwickeln – und das tun wir nicht. Wir werden unseren Verpflichtungen, die der Gesetzgeber einmal formuliert hat, nicht gerecht.
Wie bewerten Sie die Rolle der Gesetzlichen Krankenversicherung bei der Förderung eines gesunden Lebensstils?
Man bürdet der Krankenkasse schon sehr viel auf, das muss man klar sagen. Sie haben wenig Gestaltungsfreiheit, und das ist das erste Problem. Vor allem im Bereich der Prävention dürfen sie kaum handeln. Und wenn sie handeln dürfen, ist das stark gedeckelt, limitiert und beschränkt. Wir müssten den Krankenkassen viel mehr Gestaltungsspielraum geben, insbesondere um gesundes Verhalten zu belohnen und es stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Natürlich dürfen wir das Solidarprinzip dabei nicht verlieren.
Menschen, die neue Präventionswege gehen, sollten sehen, dass sich gesundes Verhalten lohnt. Im Moment lohnt sich krankes Verhalten, weil ich Ressourcen aus der Krankenversicherung erhalte. Bleibe ich jedoch gesund, habe ich eher Nachteile als Vorteile. Genau das müssen wir ändern.