Gehen die Deutschen zu oft zum Arzt? Benötigen wir teure Reservekapazitäten? Professor Jürgen Wasem, Gesundheitsökonom an der Universität Duisburg-Essen, blickt auf die Auslastung und die Finanzierung unseres Gesundheitssystems unter dem Einfluss der Corona-Pandemie.
Herr Professor Wasem, was kann Gesundheitsökonomie in und dann auch nach der Corona-Pandemie leisten?
Wir sollten uns aus der wissenschaftlichen Sicht heraus angucken: Was passiert eigentlich in der Versorgung, zum Beispiel in der Kardiologie? Denn erstaunlicherweise verzeichnen wir ja während Corona nicht nur weniger planbare Hüft-OPs und Knie-OPs, sondern auch weniger Herzinfarkte und Schlaganfälle.
Da sagen uns die Ärzte: Das kann eigentlich nicht sein.
Da sagen auch die Gesundheitsökonomen: Das ist sehr erstaunlich. Genau deshalb müssen diese Fragen aus einer wissenschaftlichen Sicht in Ruhe aufgearbeitet werden. Daraus muss man dann auch Schlussfolgerungen ziehen, etwa in Vergütungsfragen. Die hohen Kapazitäten, die uns bei Corona genutzt haben, haben wir in der Vergangenheit eher widerwillig mitfinanziert – und zwar deswegen, weil die Krankenhäuser und teilweise auch die Ärzte zusätzliche Leistungen generiert haben. Mittlerweile haben wir einen Konsens darüber, dass wir Reservekapazitäten brauchen. Dann brauchen wir aber auch geschickte Modelle, um diese Reservekapazitäten zu finanzieren. Das fängt an mit der Frage: Ist das eine Aufgabe für die Beitragszahler oder für die Steuerzahler? Wie macht man das intelligent?
Wir haben in Deutschland eine sehr hohe Arztkontakt-Rate. Wenn Patienten während der Corona-Pandemie viele Arztbesuche aufgeschoben haben – waren in der Vergangenheit viele dieser 16 oder 18 Kontakte vielleicht gar nicht zwingend nötig?
Ja, klar. Einerseits überlegen die Patienten nun stärker, ob sie wirklich zum Arzt gehen. Aber unser Vergütungssystem in der gesetzlichen Krankenversicherung ist natürlich auch so aufgebaut, dass sich das Wiedereinbestellen immer gelohnt hat. Jeder Patient sollte möglichst jedes Quartal wiederkommen, damit die entsprechende Quartals-Pauschale ausgelöst wird. Und auch in der reinen Einzelleistungsvergütung der privaten Krankenversicherung ist der wiederkommende Patient ein guter Patient. Insofern ist für mich die Frage, wie wir unsere Vergütungssysteme reformieren, um etwas weniger Druck auf das Wiederkommen und das ständige Leistungerbringen auszuüben.
Täuscht der Eindruck – oder geht der Weg im Augenblick dahin, auch versicherungsfremde Leistungen in die Beitragssysteme reinzudrücken, die eigentlich zur staatlichen Risikovorsorge zählen?
Der Trend geht dahin – so klar ist das jedoch noch nicht. Der wichtigste Finanzierer ist im Moment die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds. Die war mit fast zehn Milliarden Euro gut gefüllt – und ist jetzt rappelleer. Sie wird mit einem deutlichen Minus aus diesem Jahr gehen. Und dann ist die Frage: Wer füllt sie wieder auf? Beteiligen sich die Privatversicherten fair an dieser Veranstaltung? Denn wenn die Dinge nur aus Beitragszahlermitteln der GKV bezahlt würden, würde sich die PKV einen systematisch unbefriedigend schlanken Fuß machen. Aber wenn sie aus Steuermitteln bezahlt würden, wären die PKV-Versicherten sogar überproportional beteiligt.
Zusätzliche Steuermittel bedeuteten wahrscheinlich auch mehr Mitsprache-Anspruch des Staates. Schlägt jetzt die große Stunde von mehr Staatswirtschaft im Gesundheitswesen?
Die Risiken dafür sehe ich durchaus, aber das ist kein Automatismus. Richtig ist natürlich: Je höher der Staatszuschuss zur GKV ist, umso mehr will der Staat mitregieren. Aber schon in den letzten Jahren konnten wir den wachsenden Detailregelungswillen der Politik im beitragsfinanzierten GKV-System sehen. Die Paragraphen im SGB V werden alle immer länger – das liegt überwiegend daran, dass die Politik immer detaillierter mitregeln möchte.