Konkret enthält die sogenannte "doppelte Pflegegarantie2 folgende Punkte: 

  • Die Deckelung und Festschreibung des Eigenanteils, den Pflegebedürftige monatlich selbst für die Pflege tragen (Garantie 1).
  • Die Übernahme aller darüber hinaus gehenden pflegerischen Kosten für eine bedarfsgerechte Versorgung durch die Pflegeversicherung (Garantie 2).
  • Als „Sofortprogramm“ sehen die Grünen darüber hinaus die Finanzierung der medizinischen Behandlungspflege durch die GKV sowie einen Steuerzuschuss aus Bundesmitteln zur SPV vor.

Was die Grünen als „doppelte Pflegegarantie“ bezeichnen, entspricht inhaltlich nahezu 1:1 der Gesetzesinitiative zum „Sockel-Spitze-Tausch“ der Länder Hamburg, Berlin, Bremen und Schleswig-Holstein vom 01.03.2019. Auch die Begründung basiert auf denselben Annahmen: Alle derzeit angestrebten kostenrelevanten Verbesserungen im Zusammenhang mit der Pflege, wie z. B. mehr Personal oder die angemessene tarifliche Bezahlung der Pflegekräfte als Gegenmaßnahmen gegen den Fachkräftemangel, würden im derzeitigen Finanzierungsmodell direkt von den Pflegebedürftigen selbst über ihre Eigenanteile gezahlt. Insbesondere bei stationärer Pflege drohe aufgrund der Kosten der Gang zum Sozialamt. Des Weiteren werde die Zahl der Pflegebedürftigen in der SPV bis 2050 um 60 % steigen.

Da durch die Begrenzung der Eigenanteile ein Anreiz gesetzt wird, teure Versorgungsformen und teure Anbieter zu wählen sowie möglichst viele Pflegeleistungen in Anspruch zu nehmen, und in der Folge zusätzliche Kosten für die Beitragszahler entstehen können, schlagen die Grünen als Korrektiv ein case management vor: Es sollen bundesweit geltende Kriterien festgelegt werden, die den individuellen Pflegebedarf unter Berücksichtigung der Gegebenheiten vor Ort definieren. Diese Aufgabe soll von einem Case-Management übernommen werden, das von der Pflegeversicherung finanziert wird, aber unabhängig von ihr agieren kann. Das Case-Management soll die Pflegebedürftigen darin unterstützen, „die notwendigen Pflegeleistungen passend auszuwählen, geeignet zusammenzustellen und zweckmäßig zu organisieren“. Das Case-Management soll eine niedrigschwellige Pflegeberatung vor Ort sein.

Bewertung aus Sicht der PKV

a) Kein Handlungsbedarf: Hilfe zur Pflege seit Jahren stabil

Die sozialpolitische Begründung, dass in Folge eines Sockel-Spitze-Tauschs weniger Menschen „Hilfe zur Pflege“ beantragen würden, ist nicht überzeugend: Laut Statistischem Bundesamt erhalten heutzutage weniger vollstationär versorgte Pflegebedürftige Sozialhilfeleistungen als noch bei Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995. Dies spiegelt sich auch im rückläufigen Anteil der Pflegeheimbewohner wider, die die „Hilfe zur Pflege“ erhalten (2007: 29,3 Prozent, 2017: 28,5 Prozent). Grund dafür waren nicht zuletzt auch die Leistungsausweitungen durch Renten- und Pflegereformen zugunsten der Älteren.

b) Verteilungspolitisch ungerecht

Der Vorschlag, zur Vermeidung von Hilfebedürftigkeit eine Obergrenze für den Eigenanteil gesetzlich festzulegen und die Pflegeversicherung alle darüber hinaus gehenden Pflegekosten tragen zu lassen, ist sozialpolitisch nicht gerecht. Nach Georg Cremer (Ex-Generalsekretär des Deutschen Caritas-Verbandes) führt dies zu einem „Zielgruppenmissbrauch“: Weil pflegebedürftigen Menschen angeblich die Beantragung von Hilfe zur Pflege nicht zuzumuten sei, wird eine beitragsfinanzierte Leistungsausweitung der Pflegeversicherung für alle gefordert, also auch zugunsten der Mittel- und Oberschicht. Letztere ist jedoch durchaus in der Lage, mit ihrem eigenen Vermögen und eigenem Einkommen für die Kosten bei Pflegebedürftigkeit aufzukommen bzw. vorzusorgen.

Bisher wird „Hilfe zur Pflege“ nur bei geprüfter Bedürftigkeit gewährt und von rund 28 Prozent der Pflegebedürftigen in stationären Einrichtungen bezogen. Da von einer Begrenzung des Eigenanteils indes künftig 100 Prozent der Pflegebedürftigen profitieren würden, birgt der Vorschlag der Grünen enorme Kostenrisiken und ist sozialpolitisch mehr als fragwürdig.

c) Widerspruch zur Generationengerechtigkeit – heute und morgen

Die „doppelte Pflegegarantie“ bedeutet eine langfristige Ausweitung der Umlagefinanzierung. Mit Blick auf die demografische Entwicklung mit immer mehr Älteren, die in erster Linie Pflegeleistungen in Anspruch nehmen, und immer weniger erwerbstätigen Beitragszahlern ist das nicht nachhaltig und erhöht die implizite Verschuldung der Sozialversicherung. Die Folge sind steigende Beitragssätze zu Lasten nachwachsender Generationen und steigende Lohnzusatzkosten zu Lasten des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Die zusätzlichen Steuerzuschüsse sind in diesem Kontext nur eine Variante der Umlage und stehen ebenfalls im Widerspruch zur Generationengerechtigkeit.

Eine derartige Lastenverschiebung in die Zukunft lässt sich auch nicht mit einer angeblichen Überforderung der älteren Generation rechtfertigen. Entgegen der derzeitigen öffentlichen Wahrnehmung hat sich die Einkommens- und Vermögenssituation der Rentnerhaushalte in den letzten Jahren nicht verschlechtert: Laut Studien des IW Köln[2] fielen seit Mitte der 1980er Jahre überdurchschnittliche Realeinkommenssteigerungen vor allem bei den über 55-Jährigen an. Die Generationen der 65- bis 74-Jährigen besitzen zudem im Vergleich zu 25-Jährigen nahezu das 30fache an Vermögen und mehr als das Doppelte als die 35- bis 44-Jährigen.

Zudem liegt das Armutsrisiko der über 65-Jährigen derzeit deutlich unter dem der Gesamtbevölkerung. Die heutigen rentennahen Kohorten und Rentner profitieren also von stabilen Erwerbsbiografien, die ihnen Vermögensaufbau und eine im Durchschnitt vergleichsweise auskömmliche Rente ermöglicht haben. Es ist heute schon absehbar, dass die Erwerbsbiografien der jüngeren Kohorten vor allem im Osten deutlich instabiler sein werden. Die jüngeren Generationen werden aber durch Leistungsausweitungen zugunsten der heute Älteren in den Sozialversicherungen zusätzlich belastet, womit ihr Spielraum für Eigenvorsorge sinkt.

d) Kritische Verschiebung der Kosten

In der Finanzierungsstruktur der Pflege würde es zu kritischen Verschiebungen kommen:

  • Die Haushalte der Länder würden entlastet, da sich das Leistungsvolumen bei der „Hilfe zur Pflege“ verringern wird, wenn die Eigenanteile der Pflegebedürftigen eingefroren werden. Es stellt sich indes die Frage, ob sich die Länder mit Blick auf ihre Finanzierungsverantwortung für die pflegerische Infrastruktur in Krankenhäusern und Pflegeinrichtungen nicht sogar mehr (an den Investitionskosten) beteiligen müssten.
  • Die Beitragszahler würden dagegen zusätzlich belastet – ebenso wie die Arbeitgeber, die den Beitrag zur Hälfte mittragen. Die wirtschaftspolitisch bedeutsame Begrenzung der Sozialabgabenquote auf 40 Prozent der Lohnsumme wäre nicht zu halten.
  • Der Bundeshaushalt würde durch die Einführung eines weiteren Steuerzuschusses zu einem Sozialversicherungszweig dauerhaft zusätzlich belastet, was mit der Einhaltung der Schuldenbremse nicht zu vereinbaren ist.

e) Falsches Signal

Die Fraktion Bündnis90/Die Grünen setzt ein völlig falsches Signal für die Eigenvorsorge: sie suggeriert, nach den jüngsten historischen Leistungsausweitungen in der Pflegeversicherung können bald schon weitere folgen − bis hin zum Einfrieren des Eigenanteils an den Pflegekosten. Dieses Versprechen weckt Erwartungen, die bitter enttäuscht werden müssen: Denn auch der Vorschlag der Grünen wird der Eigenanteil an den Kosten für Unterbringung, Verpflegung und Investitionskosten in der Pflegeeinrichtung nicht etwa gedeckelt, sondern weiterwachsen. „Wo das Einkommen für Pflege und Lebensunterhalt nicht reicht, muss der Staat wie bisher über die Kommunen („Hilfe zur Pflege“) unterstützen.“ Deshalb ist auch eine erhebliche Verringerung der Anzahl der Bezieher von „Hilfe zur Pflege“ (entgegen den Versprechungen) nicht zu erwarten.

f) Notwendige Kurskorrektur bei der Stärkung der Eigenvorsorge

Wir brauchen eine Kurskorrektur in der Pflegefinanzierung, aber in eine ganz andere Richtung. Selbst bei optimistischen Zuwanderungsprognosen nimmt die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter (als wesentliche Einnahmequelle der umlagefinanzierten Sozialversicherung) ab: bis 2060 um bis zu zehn Millionen.[3] Unter diesen Bedingungen stößt das Umlageverfahren an Grenzen. Es sollte daher nicht ausgebaut, sondern sinnvoll ergänzt werden: durch eine Stärkung der Eigenverantwortung und der privaten Vorsorge. Dabei kann auf kapitalgedeckte private Pflegezusatzversicherungen zurückgegriffen werden, die es ermöglichen, ein relativ teures Risiko wie die Pflege mit relativ kleinen Beiträgen absichern.

Ein Beispiel: Der Beitrag für eine Pflegezusatzversicherung (Leistung: Tagegeld i.H. v. 2.190 Euro monatlich im Pflegegrad 5), beträgt für einen Arbeitnehmer, der 2004 bei Abschluss der Versicherung 34 Jahre alt war, im Jahr 2019 rund 32 Euro/Monat. Zusammen mit der Leistung aus der gesetzlichen Pflegeversicherung verfügt dieser Arbeitnehmer faktisch über eine „Pflegevollversicherung“. Neben den klassischen Pflegezusatzversicherungen, die die PKV schon seit den achtziger Jahren anbietet, gibt es seit 2013 zudem die ergänzende Pflegeversicherung mit staatlicher Förderung (GEPV).

Die überlegene Prämienperformance kapitalgedeckter Pflegeversicherungsprodukte im Vergleich zur umlagefinanzierten sozialen Pflegeversicherung zeigt, dass eine individuell maßgeschneiderte und zugleich generationengerechte Absicherung des Pflegerisikos zu bezahlbaren Preisen möglich ist. Das ist nicht nur gut für die Versicherten. Auch Pflegekräfte und Pflegeeinrichtungen dürften ein Interesse an einer langfristig stabilen und demografiefesten Basis ihrer Refinanzierung haben.

g) Gefahr verkappter Rationierung 

Mit dem „Sockel-Spitze-Tausch“ handeln sich die Grünen ein massives, von ihnen selbst auch konstatiertes Moral-Hazard-Problem ein: Die Pflegebedürftigen haben weniger Eigeninteresse an kostengünstigen Lösungen, da die Pflegeversicherung alle den Eigenanteil übersteigenden pflegerischen Kosten übernimmt. Die Pflegeausgaben könnten durch die entsprechende Nachfrage aus dem Ruder laufen. Dies wollen die Grünen mit einem Case-Management eindämmen.

Das von den Grünen vorgeschlagene Case-Management ist de facto ein Bedarfsfeststellungsverfahren. Das heißt, der Pflegebedürftige kann nicht mehr frei darüber entscheiden, welche Leistungen er benötigt. Nach Vorstellung der Grünen erfolgt stattdessen eine Zuweisung von Leistungen durch eine von der SPV finanzierte Stelle. Insbesondere aufgrund der Informationsasymmetrie besteht hier die Möglichkeit der Steuerung und Rationierung seitens der SPV.