Meldung02. August 2022

Mit unverzinslichen Darlehen in Milliardenhöhe reagiert der Bund auf die finanzielle Schieflage der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen. Für die Beitragszahler sind diese Schulden jedoch nur die Spitze des Eisbergs.

Die Bundesregierung wird der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im nächsten Jahr ein unverzinsliches Darlehen von einer Milliarde Euro gewähren. Der Kredit an den GKV-Gesundheitsfonds ist ein Bestandteil des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes. Es soll einen Teil der für 2023 prognostizierten Finanzlücke von 17 Milliarden Euro schließen. Der ebenfalls defizitären Sozialen Pflegeversicherung (SPV) wurde bereits im Juni ein unverzinsliches Darlehen von bis zu einer Milliarde Euro in Aussicht gestellt. Die Verschuldung der beiden Sozialversicherungen stößt im Kassenlager auf scharfe Kritik. „Eine Finanzierung auf Pump ist kein überzeugendes Zukunftskonzept“, kommentierte der GKV-Spitzenverband. Die Probleme der Krankenkassen würden dadurch nur in die Zukunft verschoben, bemängelte DAK-Chef Andreas Storm.

Dabei sind die Darlehen nur die Spitze eines Eisbergs. In den umlagefinanzierten Sozialsystemen wird seit jeher die Bezahlung der heute zugesagten Leistungen in die Zukunft verschoben und dadurch quasi ein nicht sichtbarer Schuldenberg angehäuft. Welche Belastungen dadurch auf die nachfolgenden Generationen zukommen, weist die Stiftung Marktwirtschaft in ihrer alljährlichen Generationenbilanz aus.

Die implizite Verschuldung der Gesetzlichen Krankenversicherung und Sozialen Pflegeversicherung  

Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen vom Freiburger Forschungszentrum Generationenverträge nutzt die Generationenbilanzierung, um die finanzielle Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit der Sozialversicherungen zu berechnen. Die Methode schreibt dafür die Beitragseinnahmen und die Leistungsausgaben unter Berücksichtigung der demografischen Entwicklung sowie der wirtschaftlichen und fiskalpolitischen Rahmenbedingungen in die Zukunft fort. Auf dieser Basis können die Pro-Kopf-Zahlungen des durchschnittlichen Versicherten eines Altersjahrgangs ins Verhältnis zu den Versicherungsleistungen gesetzt werden, die bis zum Lebensende in Anspruch genommen werden. Der Saldo wird in einem sogenannten „Generationenkonto“ festgehalten.

Wenn die zukünftigen Ausgaben die zukünftigen Einnahmen übersteigen, spricht man von einer impliziten Verschuldung. Weil die in der Zukunft liegenden Leistungsverpflichtungen nicht wie explizite Schulden (z.B. bestehende Kredite oder Darlehen) verbrieft sind, wird auch von „verdeckten“ Schulden gesprochen. In den umlagefinanzierten Sozialversicherungen entstehen implizite Schulden, wenn eine Alterskohorte im Laufe ihres Lebens mehr Leistungen erhält als sie in die Versicherung eingezahlt hat. Der Saldo des Generationenkontos rutscht ins Minus und muss durch die nachfolgenden Generationen ausgeglichen werden. Aus der Summe von expliziten und impliziten Schulden entsteht die sogenannte „Nachhaltigkeitslücke“, die in Relation zum Bruttoinlandsprodukt ausgewiesen wird. Sie bietet einen Indikator dafür, wie weit die Sozialversicherung aktuell von einer generationengerechten Lastenteilung entfernt ist.

Kranken- und Pflegekassen sind nicht auf den demografischen Wandel vorbereitet

Die Ergebnisse dieser Generationenbilanz für GKV und SPV sind alarmierend. Vor allem die Auswirkungen des demografischen Wandels werden zur Herausforderung. Ab 2025 wird die Generation der Babyboomer aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Die Zahl der Erwerbspersonen wird bis 2030 um fast 1,5 Millionen Personen zurückgehen. 5 Jahre später fehlen dem Arbeitsmarkt dann schon 5,8 Millionen Personen, während die Zahl der Menschen im Ruhestand bis dahin um 4,5 Millionen gestiegen ist.

Das Problem: Im Umlageverfahren der GKV und SPV müssen die aktiv Erwerbstätigen die Ausgaben von Ruheständlern mittragen, weil die Beiträge auf Renteneinkünfte und sonstige Ruhegelder nicht kostendeckend sind. Anders als die Private Krankenversicherung mit ihrem Aufbau kapitalgedeckter Alterungsrückstellungen treffen die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen für die höheren Leistungsausgaben der alternden Gesellschaft keine Vorsorge. Und weil die Ausgaben für die gesetzlichen Leistungszusagen in den kommenden Jahrzehnten demografiebedingt stark steigen werden, klafft dort eine gewaltige Nachhaltigkeitslücke: Im Juni 2022 lag schon allein die implizite Verschuldung der Gesetzlichen Krankenversicherung bei 71 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), in der Sozialen Pflegeversicherung bei gut 52 Prozent. Umgerechnet auf die Jahresleistung des BIP von 2021 (3,57 Billionen Euro) beträgt die Nachhaltigkeitslücke somit die unvorstellbare Summe von rund 2,5 Billionen Euro für die GKV sowie 1,9 Billionen Euro für die SPV. Das sind zusammen also rund 4.400 Milliarden (!) Euro verdeckte Schulden.

Gesetzlich Versicherte müssen sich auf stark steigende Beiträge einstellen

Die Aussichten für die Versicherten sind düster: Schon für die kommenden Jahre rechnet das Bundesgesundheitsministerium mit deutlich höheren Ausgaben als Einnahmen. Um die Lücke zu schließen, müsste der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz ab 2024 jedes Jahr um weitere 0,2 bis 0,3 Prozentpunkte steigen, so das Ministerium. Gesetzlich Versicherte müssen sich also auf stark steigende Beiträge einstellen.

Ohne Reformen werden die impliziten Schulden von heute über kurz oder lang zu expliziten Schulden von morgen.

Diese Entwicklung war vorauszusehen. Zuletzt hatten die Ökonomen Prof. Thiess Büttner von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Prof. Martin Werding von der Ruhr-Universität Bochum die Beitragssatzentwicklung der umlagefinanzierte Sozialsysteme bis 2030 berechnet und zur Stabilisierung der Beitragssätze einen zusätzlichen Finanzbedarf von 144 Milliarden Euro identifiziert.

Ohne Reformen werden die impliziten Schulden von heute über kurz oder lang zu expliziten Schulden von morgen, schreiben die Autoren der Generationenbilanz. Darlehen und laute Forderungen nach immer höheren Steuerzuschüssen erscheinen diesbezüglich wie Vorboten. Sie kollidieren mit der ohnehin schon hohen Verschuldung der öffentlichen Haushalte und mit den Vorgaben der Schuldenbremse. Langfristig werde man um drastische Beitragssatzerhöhungen und Leistungskürzungen nicht herumkommen, schlussfolgert Prof. Raffelhüschen.