Interview

Die Dualität aus Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung trage zur guten Ausstattung des Gesundheitswesens bei, meint Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer. Krisen wie Corona lassen sich so besser bewältigen als in rein staatlich oder privatwirtschaftlichen Systemen.

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16. September 2021 -  Herr Dr. Reinhardt, Sie sind niedergelassener Arzt und vertreten als Präsident der Spitzenorganisation der ärztlichen Selbstverwaltung die berufspolitischen Interessen von etwa einer halben Million Ärztinnen und Ärzten in Deutschland. Was beschäftigt Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen derzeit am meisten?

Wir müssen mit der Impfkampagne noch weiter vorankommen, weil das der aus unserer Sicht einzige Schlüssel zur Überwindung der pandemischen Situation ist. Wir müssen einen noch größeren Anteil von Menschen überzeugen, dass Impfen für sie persönlich sinnvoll ist, aber auch für die Gesellschaft und das System als Ganzes. Ich glaube, wir müssen uns intelligente Maßnahmen einfallen lassen, um vor allem die Menschen zu erreichen, die in der Vorstellung leben, sie treffe das Virus nicht so hart. Der Impfstoff ist da – insofern sind die Voraussetzungen gut.

An welche Art „intelligenter Maßnahmen“ denken Sie?

Phantasievolle Maßnahmen. Die Franzosen zum Beispiel haben ein Poster gemacht, wo sich zwei junge Menschen küssen – darunter steht: „Erwünschte Nebenwirkungen der Impfung“. Ich könnte mir auch vorstellen, dass man ein Heimspiel von Bayern München nutzt und sagt: Wer noch nicht geimpft ist und sich in einem Impfmobil dort impfen lässt, bekommt die Eintrittskarte geschenkt. Ich glaube, dass man auf diese Weise Menschen erreicht, die man sonst nicht erreichen würde.

Nun ist ja Deutschland im internationalen Vergleich relativ glimpflich durch die Pandemie gekommen. Wo sehen Sie die größten Stärken des deutschen Gesundheitssystems?

Das deutsche Gesundheitssystem ist eines der leistungsfähigsten der Welt. Und es ist ein gesundes System, in dem Menschen – völlig unabhängig von Einkommen und Vermögensstand – die Gelegenheit haben, sich bei sehr niedrigschwelligen Angeboten versorgen zu lassen. Das hat etwas mit den historisch gewachsenen Strukturen zu tun, mit der Tatsache, dass wir als Land, Gesellschaft und Staat bereit waren, für die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung einen relativ hohen Betrag aufzuwenden. Und damit, dass wir uns aus der Ärzteschaft heraus erfolgreich gegen einen erheblichen Abbau zum Beispiel im stationären Sektor gewehrt haben. Bis vor der Pandemie wurde uns das ja noch nahegelegt. Wir wissen aber auch, dass die gegenwärtig hohe Versorgungsqualität im Hinblick auf ländliche, infrastrukturell schwache Gebiete gefährdet ist.

Welchen Einfluss hat die Dualität aus Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung auf die Qualität und die Krisenfestigkeit der medizinischen Versorgung in Deutschland?

Das fragen mich auch manche Politiker, die meinen, die Private Krankenversicherung sei ein alter Zopf, der irgendwann mal abgeschnitten werden müsste. Dazu kann ich nur feststellen: Wenn wir uns anschauen, wie andere vergleichbare Gesellschaften mit der Pandemie im Gesundheitswesen fertiggeworden sind – zum Beispiel England mit einem komplett staatlich organisierten Gesundheitssystem oder die USA mit ihrem deutlich privatwirtschaftlich organisierten Gesundheitswesen – erkennen wir, dass beide große Probleme gehabt haben, ihre Bevölkerung und die Erkrankten vernünftig zu versorgen. Massiv größere Probleme, als wir zu jedem Zeitpunkt gehabt haben. Das ist ein Hinweis darauf, dass weder das eine noch das andere System in den Extremen krisenfest ist und eine vernünftige Organisation gewährleisten kann. Die Dualität, der Wettbewerb, den wir historisch gewachsen aus dem privaten und dem gesetzlichen Krankenversicherungssektor haben, trägt offensichtlich mit dazu bei, dass unsere Strukturen so gut ausgestattet und so reaktionsfähig sind, dass man solche Krisen besser bewältigen kann.

Wie lauten die zentralen Forderungen der Ärzteschaft an die neue Bundesregierung?

Wir fordern die Stärkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes und eine vernünftige Digitalisierungsstrategie, bei der die Ärzteschaft einbezogen werden muss – stärker als das aktuell der Fall ist. Darüber hinaus wird uns sehr stark die Zusammenarbeit zwischen stationärem und ambulantem Sektor beschäftigen müssen. Denn dort sind Organisationschancen, die noch nicht genutzt werden. Auch die Frage der geriatrischen Strukturen, der Versorgung der alternden Bevölkerung ist eine große Herausforderung im Gesundheitswesen. Die steht ins Haus – der wird sich, wer auch immer uns regiert, angemessen widmen müssen.