Der PKV-Verband unterstützt ein Modellvorhaben des WIR-Zentrums für Sexuelle Gesundheit und Medizin. Mitbegründer Prof. Norbert Brockmeyer und Dr. Adriane Skaletz-Rorowski erläutern, warum Sexuelle Gesundheit entscheidend für die Gesamtgesundheit ist – und wie wir sie fördern können.

Herr Professor Brockmeyer, Sie sind Mitbegründer des WIR-Zentrums für Sexuelle Gesundheit und Medizin und haben es viele Jahre geleitet. Was bieten Sie hier?
Wir kommen aus einer fast reinen Ambulanz für HIV-infizierte Menschen. Wir haben aber gesehen, dass die Angebote, die wir, die Aidshilfe und das Gesundheitsamt an unterschiedlichen Standorten haben, zwar Menschen erreichen – wir können sie aber nicht zusammenführend behandeln. Deshalb haben wir 2016 ein Zentrum für Sexuelle Gesundheit aufgebaut, wo Menschen ganz viele Ansprechpartner und Experten haben. Sie können mit allen Problemen dorthin gehen. Wir schaffen es, aus verschiedenen Bereichen Menschen anzusprechen, ihnen Vertrauen zu geben und – ganz wesentlich –, dass sie uns weiterempfehlen: Im WIR könnt ihr tabufrei über alles berichten, was euch drückt.
Frau Dr. Skaletz-Rorowski, seit Sommer 2021 sind Sie Geschäftsführende Leiterin des WIR-Zentrums und betreiben mit dem PKV-Verband ein gemeinsames Modellprojekt zur Gesundheitsförderung und Primärprävention in den Lebenswelten junger Menschen. Was soll hier erreicht werden?
Wir möchten Menschen in Lebenswelten erreichen, die sehr schwer zugänglich sind. Menschen, die Probleme im Bereich der Sexuellen Gesundheit haben, wo sexuelles Risikoverhalten vorhanden ist, wo Beratung notwendig ist. Das sind zum Beispiel die Lebenswelt der Trans-Jugendlichen, der Menschen mit Migrationsgeschichte, obdachlose Jugendliche in Notunterkünften. Es sind Menschen, die zum Beispiel im Rahmen ihrer Sexualität Substanzgebrauch haben, Menschen in der JVA – alles Bereiche, wo man schwere Zugänge hat und wo die Menschen auch zu uns einen schweren Zugang haben, um sich zu informieren, um sich zu beraten, behandeln zu lassen.
Herr Professor Brockmeyer, wir reden ganz selbstverständlich von Sexueller Gesundheit, von der Förderung Sexueller Gesundheit. Wie definieren Sie sie?
Sexuelle Gesundheit betrifft alle Lebensfunktionen eines Menschen. Und zu sexueller Gesundheit gehört auch, dass ich Sexualität frei leben kann – ohne Beeinträchtigung, ohne Tabus, ohne Ausgrenzung, auch vom eigenen Wissen her. Überlegen wir nur mal, welche Schwierigkeiten wir haben, über Sexualität zu reden. Deshalb ist das PKV-Projekt auch unglaublich wichtig. Wir möchten es schaffen, Maßgaben vorzugeben, wie wir mit Menschen reden können, auch in den Institutionen. Wir möchten bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Verständnis wecken für die Probleme sexueller Gesundheit, auch was die Sprache anbetrifft. Dann könnten wir direkt über die Institutionen eine Verhaltensprävention erreichen.
Im Rahmen des Modellprojekts hat eine Expertise die Versorgungssituation und die Bedarfe der Zielgruppen erfasst. Was leiten Sie daraus ab?
Im Wesentlichen zwei Punkte: einer ist die Sprachlosigkeit. In den diversen Lebenswelten und auch in den Organisationen fehlt eine freie Sprache oder enttabuisierte Sprache über Sexualität. Es muss viel getan werden, um ins Gespräch zu kommen – sowohl seitens der Institutionen als auch auf Seiten der jungen Menschen. Sie müssen sagen und bezeichnen können, was los ist, wo die Probleme liegen. Der andere Punkt ist: Es gibt nicht das Angebot und die Lebenswelt und die Zielgruppe. Wir haben durch zahlreiche Interviews festgestellt, dass die Angebote wirklich auf die Lebenswelten zugeschnitten sein müssen.