Interview

Was wie ein Widerspruch klingt, gehört für Jochen Werner untrennbar zusammen: Digitalisierung und Menschlichkeit. Der Ärztliche Direktor des Universitätsklinikums Essen entwickelt das Krankenhaus zum „Smart Hospital“ – und will mit mehr Kommunikation die Akzeptanz digitaler Lösungen steigern.

Prof. Dr. Jochen A. Werner leitet das Essener Universitätsklinikum und ist Vorreiter in Sachen Digitalisierung im Krankenhaus.

16.03.2021

Herr Professor Werner, das deutsche Gesundheitssystem hat in der Corona-Pandemie viele Stärken bewiesen – aber auch Schwächen im Bereich der Digitalisierung offenbart. Eine Überraschung?

Nein. Im analogen Zeitalter war das deutsche Gesundheitssystem ein sehr gutes. Als jedoch weltweit die Digitalisierung vorangetrieben wurde, hat Deutschland leider den Anschluss verpasst. Die Politik hat immer wieder Dinge angekündigt und versprochen, die letztlich nicht umgesetzt wurden. Geendet ist das in einer absolut unzureichenden digitalen Infrastruktur in Deutschland. Jetzt erleben wir hautnah, dass uns diese Haltung für die Pandemiebekämpfung geschadet hat. Viele Daten, aus denen man Wissen generieren könnte, liegen in Arztpraxen und Krankenhäusern ungenutzt herum. Das halte ich für verheerend. Wir dürfen uns zu Recht die Frage stellen, was das für die Gesundheit der Menschen bedeutet.

Was bedeutet die Digitalisierung für Sie im Essener Universitätsklinikum?

Wir haben den Anspruch, das Bestmögliche für unsere Patientinnen und Patienten zu tun. Mit dem Beginn meiner Tätigkeit in Essen habe ich –mit dem Aufsichtsrat abgestimmt – die Digitalisierung als Thema Nummer eins definiert. Wir sind auf einem guten Weg – haben aber auch noch eine lange Wegstrecke vor uns. Wenn dieser Weg nicht durch eine vernünftige digitale Infrastruktur ergänzt wird, können wir unser Potenzial nicht abrufen. Das wäre schade. Denn inzwischen haben wir einige Projekte nicht nur planen, sondern auch umsetzen können.

Zum Beispiel?

Die Definition von „Smart Hospital“ ist es, den Fokus viel stärker als bisher auf die Patienten, Angehörige und Mitarbeitende zu legen. Die Digitalisierung dient uns als Hilfswerkzeug: Wir haben zum Beispiel eine elektronische Patientenakte und eine digitalisierte Notaufnahme eingeführt, die uns gerade auch in Corona-Zeiten enorm geholfen hat. Außerdem gibt es ein komplett digital organisiertes Service- und Informationscenter im Bereich der Onkologie, das für das gesamte Unternehmen ausgerollt werden soll. In unserem Institut für künstliche Intelligenz in der Medizin untersuchen wir, wie die KI bei der Versorgung von Patienten, aber auch in der Ausbildung von Medizinerinnen und Medizinern unterstützen kann. Und in unserem Institut für digitale Innovationen in Medizin und Medizinmarkt ermöglichen wir Start-ups, ihre Produkte bei uns einzusetzen und zu optimieren. 

Wie erleben die Patientinnen und Patienten Ihr Digitalisierungsbestreben?

Es gibt natürlich auch Menschen, die Sorge haben, in einem Smart Hospital von Robotern behandelt oder gepflegt zu werden. Diese Sorge ist nicht begründet. Roboter werden eingesetzt, um Prozesse sicherer zu machen. Die Behandlung selbst erfolgt von der Ärzteschaft oder von anderen medizinischen Berufsgruppen. Die beschriebene Sorge allerdings muss man sehr ernst nehmen. Auch über solche Aspekte informieren wir über unser Institut für Patientenerleben, einzigartig in Deutschland. Hier klären wir zu vielen Fragen auf, wollen ebenso die Bedürfnisse der Patienten und Angehörigen besser identifizieren: Wie kommt der Patient zu uns, welche Wege hat er vor sich, wie bewältigt er sie? Wir versuchen, in viele Fragen Patientenmeinungen einzubeziehen. Und wir fokussieren das große Thema Patientensicherheit, einen der Hauptzwecke der Digitalisierung.

Inwiefern?

Nehmen Sie das Beispiel elektronische Patientenakte: Diese bietet eine viel transparentere Dokumentation als die Papierakte. Niemand muss mehr irgendwelche Zettel suchen; alle Dokumente sind immer verfügbar. Und es kann nachträglich nichts hinzugefügt, verändert oder entfernt werden. Abgesehen davon erleichtert die elektronische Akte den Alltag der medizinischen Fachkräfte – und lässt ihnen so mehr Zeit für den persönlichen Patientenkontakt. 

Wie beurteilen Sie die Diskussion um den Datenschutz, die Themen wie die elektronische Patientenakte für alle Bürger immer wieder begleiten?

Der Datenschutz spielt schon seit Jahren eine gewisse Rolle, die Digitalisierung in Deutschland nicht weiter voranzubringen. Er diente immer wieder als Argument, eher auf die Bremse als aufs Gaspedal zu treten. Ich bin der Meinung, dass nur Kommunikation hilft, um die Akzeptanz einer elektronischen Patientenakte oder anderer digitaler Lösungen zu steigern. Was passiert, wenn nicht optimal kommuniziert wird, erlebten wir gerade bei dem Corona-Impfstoff von AstraZeneca. Wenn gar nicht kommuniziert wird, gibt es auch keine Akzeptanz. Andersherum zeigt uns das Beispiel Israel, wie man bei den Impfungen vorankommt: Die Menschen stellen ihre Daten zur Verfügung. Ich halte das für absolut richtig. Die Medizin entwickelt sich leider sonst nicht weiter – zu unser aller Schaden.

  • Prof. Dr. Jochen A. Werner leitet seit Oktober 2015 die Essener Universitätsmedizin mit rund 10.000 Mitarbeitenden und überführt sie in ein „Smart Hospital“. Er betreibt mehrere YouTube-Kanäle und ist Gast zahlreicher Talkshows und Vortragsveranstaltungen.