Interview

Prof. Adelheid Kuhlmey, Direktorin des Instituts für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft an der Berliner Charité, spricht über die Herausforderungen in der Pflege sowie über den Einfluss, den erfolgreiche Präventionsarbeit auf die Versorgungsstrukturen haben kann.

03.03.2021 - Adelheid Kuhlmey ist eine der anerkanntesten Gerontologinnen Deutschlands und Expertin auf den Gebieten des demographischen Wandels sowie der medizinischen und pflegerischen Versorgung alter Menschen. 

Frau Prof. Kuhlmey, die Nachfrage nach Pflege wird durch die Generation der Babyboomer, die in den kommenden Jahren nach und nach in den Ruhestand gehen wird, deutlich ansteigen. Ist unser Pflegesystem, sind unsere Versorgungsstrukturen eigentlich ausreichend vorbereitet?

Das stimmt, wir erwarten eine starke Nachfrage an Pflege aus der Babyboomer-Generation in den Jahren 2035 bis 2050. Das verdeutlicht der Blick auf die Zahlen. Insgesamt wurden in den Geburtsjahrgängen zwischen 1955 und 1965 etwa 13 Millionen sogenannte Babyboomer geboren. Allein dadurch gewinnt man schon eine gute Vorstellung, was auf die Pflege in den kommenden 30 Jahren zukommen wird.

Das heißt, wir sind nicht ausreichend vorbereitet?

Das muss man leider ganz klar sagen: Das Pflegesystem ist auf diese Generation nicht ausreichend vorbereitet. Das bedeutet, die derzeitigen Versorgungsstrukturen werden die steigende Nachfrage rein quantitativ nicht bedienen können. Das Positive ist, dass wir eine ambulante Struktur aufgebaut haben. Die gab es 1995 vor Einführung der Pflegeversicherung nicht. Heute kann man ambulant gepflegt werden und dafür gibt es etwa 14.000 Pflegestationen in ganz Deutschland. Allerdings wage ich zu behaupten, dass es die Bedarfe einer sozialisierten Generation wie die der Babyboomer nicht abdecken wird.

Mal andersherum gefragt: Wissen denn die Babyboomer, was sie erwartet?

Ich denke sowohl als auch. Einerseits haben sie das erste Mal in der Geschichte des demografischen Wandels die Erfahrung gemacht, was es bedeutet, wenn die eigenen Eltern auf Pflegeleistungen angewiesen sind. Da stellen sich viele selbstverständlich die Frage: Wie stelle ich mir meine Pflege eigentlich vor? Von daher könnte ich mir vorstellen, dass diese Generation vorbereitet sein könnte. 

Andererseits weiß ich natürlich als Gerontologin, dass die Generationen der mittleren und höheren Lebensjahre die Frage nach dem „Wie“ beim Älterwerden gerne verdrängen. Viele Menschen empfinden es als unangenehm, sich mit der Tatsache zu beschäftigen, dass ein langes Leben auch Abhängigkeit in Form von Hilfe und Pflege durch Dritte bedeuten kann.

Ist damit zu rechnen, dass mit dem Älterwerden der Babyboomer auch entsprechend mehr Menschen pflegebedürftig werden? Gibt dazu schon Prognosen?

Prognosen sind immer schwierig. Allerdings haben wir im Moment Anhaltspunkte, die darauf hindeuten, dass mit der Alterung der Babyboomer auch die Zahl der Pflegebedürftigen zunehmen wird. Mit anderen Worten, es gibt eine Korrelation zwischen hohem Alter und Pflegebedürftigkeit. Das Alter ist sozusagen ein Marker für die Bedürftigkeit.

Im Grunde zeigen uns die Zahlen der Pflegeversicherung, dass wir immer älter werden. Mit der wachsenden Lebenserwartung steigt allerdings nicht automatisch auch die Anzahl der pflegefreien Jahre. Wir haben es leider seit einiger Zeit auch mit einem Anstieg der Lebensjahre mit Pflegebedarf zu tun. Also sollten wir eben auch auf die Vermeidung von Pflegebedürftigkeit setzen.

Gibt es eine Chance, diese wachsende Kluft zwischen dem Versorgungsbedarf und den pflegerischen Ressourcen durch die Vermeidung von Pflegebedürftigkeit, die Sie gerade erwähnt haben, in den Griff zu bekommen?

Ja, die gibt es tatsächlich. Das zeigt ein Rechenbeispiel, ausgehend von den aktuell 4,2 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland. Wenn wir in den Lebensjahren der 70- bis 80-jährigen durch Präventionsarbeit erreichen könnten, dass zehn Prozent dieser Menschen nicht so zeitig in die Pflegebedürftigkeit kommen oder vielleicht gar nicht, und wenn wir bei den Hochbetagten, also den über 80-jährigen, fünf Prozent erreichen würden, dann entspräche das einem Potenzial von bis zu 400.000 Menschen, die weniger pflegebedürftig werden würden. Darum ist Prävention in meinen Augen ein wichtiges Mittel, um den Pflegebedarf künftig abdecken zu können.

Wir müssen also sehr viel mehr Prävention anbieten, um Probleme in der Versorgung, zum Beispiel durch Personalmangel, zu lösen?

Ja, das ist richtig. Natürlich müssen wir immer wieder auch die Effizienz und Effektivität unserer Versorgungsstrukturen hinterfragen und verbessern. Allerdings werden wir die Fachkräfte, die wir brauchen werden, nicht in der Größenordnung finden. 

Wir finden sie nicht in unserem Land und wir werden sie auch nicht durch die Anwerbung im Ausland bekommen. Wir müssen an anderen Schrauben drehen, wie erwähnt durch Prävention, um den Pflegebedarf zu senken. Das nutzt nicht nur der pflegerischen Versorgung, sondern auch uns selbst als älter werdenden Frauen und Männern: Es bringt ein längeres und beschwerdefreies Leben. Und das ist wichtig, um das System nicht kollabieren zu lassen.

Noch ein Wort zu den pflegenden Angehörigen. In welcher Lage befindet sich der „größte Pflegedienst der Nation“ und was müssen wir tun, um ihn zu erhalten?

Etwa vier bis fünf Millionen Menschen engagieren sich heute deutschlandweit in der familiären Pflege. Es ist also eine Schlüsselressource. Das Schöne ist, diese Menschen werden nicht zum Pflegedienst gezwungen, sie wollen das auch leisten.

Was müssen wir also tun, um diese Ressource zu bewahren? Erstens, wir müssen die Gesundheit der pflegenden Angehörigen schützen. Denn vielfach ist ihre Gesundheit durch die Belastungen selbst gefährdet. Zweitens, müssen wir die Freiwilligkeit stützen. Wir können nicht davon ausgehen, dass die Pflege wie selbstverständlich von Angehörigen übernommen wird. Wir müssen die Freiwilligkeit stützen und das können wir nur durch ein professionelles Hilfesystem, mit dem Angehörige die private Pflege ergänzen können. Wir brauchen also eine Gesetzgebung, die gute Möglichkeiten für die Vereinbarkeit von privater Pflegearbeit und Beruf schafft.